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Essen ist politisch – und ein Menschenrecht

Auch im 21. Jahrhundert ist ausreichende und ­gesunde Nahrung für Milliarden Menschen keine Selbstverständlichkeit. Die Zahl der Hungernden und Mangel­ernährten steigt seit 2017 laut der UN-Organisation für Landwirtschaft und Ernährung (FAO) wieder an. Die Folgen der Lockdowns zur Covid-19-Bekämpfung haben diesen Trend noch verstärkt.

Seit 1966 ist das Recht auf Nahrung im Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte verankert. Nach schweren Hungersnöten gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt dies als ein Meilenstein - die großen Hungerkrisen in der zweiten Hälfte in Afrika, Indien oder China konnten leider nicht verhindert werden.

Immerhin haben sich 162 Staaten völkerrechtlich verpflichtet, das Menschenrecht auf Nahrung zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Immer wieder gab und gibt es globale Verabredungen der Staatengemeinschaft, den Hunger in der Welt zu halbieren oder auch zu beenden, zuletzt im Rahmen der Agenda 2030. Bis zu diesem Jahr aber wird das Ziel nicht erreicht sein. Im Jahr 2020 hatten 768 Millionen Menschen zu wenig zu essen, fast zehn Prozent der Weltbevölkerung. Weltweit leben etwa 1,8 Milliarden Menschen in Armut und müssen mit weniger als 3,20 US-Dollar am Tag auskommen, knapp 700 Millionen Menschen sind extremer Armut ausgesetzt und haben weniger als 1,90 US-Dollar täglich zur Verfügung.

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Die FAO hat zuletzt 2021 betont, dass Hunger vor allem auf Armut und Ungleichheiten zurückzuführen ist. Hunger bekämpfen heißt deswegen auch, Ungleichheit zu bekämpfen. Menschen, die in Armut leben, können schlechter auf akute ökonomische oder ökologische Krisen reagieren. Seit 1960 aber hat sich die Zahl der «Naturkatastrophen» weltweit verzehnfacht. Millionen Menschen erleben, dass Überschwemmungen häufiger und intensiver werden, Dürren und Stürme machen jedes Jahr ­90 Prozent aller klimabedingten Katastrophen aus. Schon heute verstärkt der Klima­wandel Ernteausfälle in den ohnehin von Nahrungsmittelkrisen bedrohten Regionen - die Ernten fallen zum Teil über Jahre aus. Eine der gravierendsten Katastrophen zeigt sich derzeit auf Madagaskar. Nach zwei aufeinanderfolgenden Jahren extremer Dürre werden die Menschen im Süden im Jahr 2021 wahrscheinlich auf große Teile ihrer Ernte verzichten müssen. Die Welthungerhilfe schreibt, dass die Landwirtschaft in einigen Bezirken einen Produktionsverlust von 60 ­Prozent erwartet. Die WHO spricht von 1,14 Millionen Menschen, die bereits jetzt nicht genug zu essen haben und hungern müssen.

Die Corona-Pandemie hat die Lage der von Armut bedrohten Bevölkerung weiter verschärft. Fast 100 Millionen Menschen sind laut WHO zusätzlich in die Armut gerutscht, im Jahresvergleich 2019 und 2020 sind das etwa zwölf Prozent mehr. Lockdowns, der Verlust von Arbeitsplätzen, sinkende Investitionen und Exporte sowie ausbleibende Touristen haben in vielen Ländern zu gravierenden Einkommensverlusten geführt und die Armut verschärft. Während die Bevölkerung in den Industrieländern seit Langem im Durchschnitt einen immer kleineren Teil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt, müssen arme Haushalte des globalen Südens den größten Teil dafür einplanen. Je höher die Preise für Nahrungsmittel steigen, desto mehr ist die sichere Ernährung der Menschen bedroht.

Konflikte schaffen Hunger – Hunger schafft Konflikte

Gewaltsame Konflikte sind weltweit eine der Hauptursachen für Unterernährung. Im Jahr 2019 waren Konflikte Auslöser für sechs der zehn schlimmsten Ernährungskrisen. Und alle Länder, in denen im Jahr 2020 eine Hungersnot herrschte, waren von gewaltsamen Konflikten betroffen. In Afrika waren das der Sudan, Äthiopien, Südsudan, Nigeria, Kongo, die Demokratische Republik Kongo und Burkina-Faso, im Mittleren Osten der Jemen, Irak, Palästina und Syrien, in Zentralasien Afghanistan sowie die Konflikt-Regionen in Bangladesch und Pakistan. Während die meisten Länder seit 25 Jahren Fortschritte dabei erzielt haben, Hunger und Unterernährung zu verringern, stagnierte dieser Prozess in den von Konflikten betroffenen Ländern. Zum Teil hat sich die Situation der Menschen dort sogar verschlechtert.

Das ist besorgniserregend, weil die Zahl der Konflikte weltweit zunimmt. Die Art und Weise, wie sich Konflikte auf die Ernährungssicherheit und die Landwirtschaft auswirken, unterscheidet sich je nach der Situation vor Ort. Vertreibungen vom Land, das Töten von Vieh oder das Zerstören von Feldern werden häufig als militärische Strategie und Kriegstaktik eingesetzt, wie beispielsweise im Jemen oder in der äthiopischen Region Tigray. Produktive Infrastruktur und Vieh werden dort gezielt angegriffen, die Bevölkerung wird belagert, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und ausgehungert. In anderen Konflikten ist Hunger eine unbeabsichtigte, aber strukturelle Folge des Krieges, wenn Konflikte etwa zu Vertreibungen führen, die Lebensgrundlagen, Nahrungsmittelsysteme und Märkte zerstören. Dies führt zu höheren Lebensmittelpreisen und geringerer Kaufkraft der Haushalte.

Geflüchtete gehören zu den weltweit besonders stark gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Schätzungsweise 80 Prozent von ihnen leben in Ländern, in denen sich Teile der Bevölkerung nur mit Mühe ausreichend ernähren können. Ihre Zahl ist seit 2011 kontinuierlich gestiegen. Ende 2019 erreichte sie einen Rekordwert von 79,5 Millionen Menschen. Das waren fast doppelt so viele wie im Jahr 2010.

Hohe Nahrungsmittelpreise treiben Menschen in den Hunger

Der von der FAO erhobene Preisindex für Nahrungsmittel steigt kontinuierlich und liegt inzwischen um 33 Prozent höher als vor einem Jahr. Das hat mehrere Ursachen: Der Bedarf steigt, weil die Bevölkerung wächst, die Ernährungsgewohnheiten verändern sich – vor allem beim Fleischkonsum –, damit werden noch mehr Flächen für Futtermittel genutzt; gleichzeitig wächst das Interesse der Industrie an Agrarrohstoffen. All dies trifft auf ein Angebot an Flächen, das in weiten Teilen der Welt durch die Klimakrise immer weiter reduziert wird.

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Die Landwirtschaft bietet nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch Arbeit – in vielen Ländern des globalen Südens für weit mehr als 50 Prozent der Menschen. Beschäftigungsintensive, kleinbäuerliche Strukturen zu erhalten, ist auf absehbare Zeit zentral, um Armut zu bekämpfen. Allerdings rückt auch die Lage der Armen in den Städten zunehmend in den Fokus.

Fehlernährung ist ein weltweiter Trend

Armut führt häufig auch zu Fehlernährung, die in allen Ländern der Welt vorkommt. Sie trifft eher die unteren Bevölkerungsschichten, die sich keine gesunde und nährstoffreiche Ernährung leisten können. Heute ist circa ein Drittel der Menschheit davon betroffen. Weltweit haben in den vergangenen 20 Jahren Krankheiten stark zugenommen, die unter anderem durch falsche Ernährung ausgelöst werden. So starben im Jahr 2000 weltweit 900.000 Menschen an Diabetes, im Jahr 2019 waren es 1,4 Millionen. Herzerkrankungen und Schlaganfälle waren im Jahr 2019 weltweit die häufigsten Erkrankungen und verursachten 15 Millionen Todesfälle – 2000 waren es noch 12 Millionen. Die Ursachen von Übergewicht und Fettleibigkeit sind vielschichtig. Sie liegen vor allem in veränderten Lebens- und Ernährungsgewohnheiten in Verbindung mit zu wenig Bewegung.

Der Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel ist als eine Ursache für Fettleibigkeit ins Zentrum gerückt. Zu diesen zählen etwa zuckergesüßte Getränke, Snacks oder Tiefkühlgerichte. Sie haben viele Kalorien und bestehen häufig aus billigen Rohstoffen wie Palmöl, Zucker und Stärke. Sie sind in allen Ländern der Welt Teil des Ernährungssystems. Dieses Geschäft mit ungesundem und nährstoffarmen Essen teilen sich einige wenige Lebensmittelkonzerne der Welt wie Nestlé, PepsiCo, Tyson Foods oder Anheuser-Busch. Sie tragen die größte Verantwortung für die weltweit zunehmende Fettleibigkeit und sie tun politisch alles, um Daten dazu sowie Kennzeichnungspflichten wie Nutri-Scores zu verhindern.

Im Vergleich zu anderen sind hochverarbeitete Lebensmittel haltbarer, werden handlich für den sofortigen Verzehr angeboten und stark beworben. Trotz der negativen Ernährungsbilanz decken sie – abhängig von der Region – zwischen 25 und 60 Prozent des Kalorienbedarfs. Marktdaten zeigen, dass ihr Umsatz vor allem in Süd- und Südostasien sowie in Nordafrika und dem Mittleren Osten gestiegen ist; der Umsatz mit hochverarbeiteten Getränken ist besonders in Süd- und Südostasien und Afrika gestiegen. Eine gesunde, also abwechslungs- und nährstoffreiche Ernährung ist fünfmal teurer als eine, die nur den Energiebedarf durch stärkehaltige Grundnahrungsmittel deckt. Weltweit können sich mehr als drei Milliarden Menschen keine gesunde Ernährung leisten.

Im globalen Durchschnitt kostet es 0,79 US-Dollar, einen Menschen für einen Tag mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Wird zusätzlich der Bedarf an Nährstoffen gedeckt, liegt die Summe schon bei 2,33 US-Dollar. Für eine Ernährung, die verschiedene Lebensmittelarten kombiniert und neben Mangelerscheinungen auch langfristig ernährungsbezogenen Krankheiten vorbeugt, sind pro Tag und Kopf mindestens 3,75 US-Dollar aufzubringen. Laut einem Bericht der UN ist eine gesunde Ernährung für fast die Hälfte aller Menschen weltweit unerschwinglich.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz zeigt: Auch in Deutschland gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut, Ernährung und Gesundheit; eine gesunde Ernährung ist für die von Armut bedrohten Haushalte schwer finanzierbar. Im März 2020 lebten 6,48 Millionen Menschen in Deutschland von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen, darunter rund 1,87 Millionen Kinder und Jugendliche. Für alleinlebende Erwachsene betrug 2020 die monatliche Grundsicherung 432 Euro. Darin enthalten ist ein Budget für Lebensmittel von etwa 150 Euro im Monat, rund fünf Euro am Tag. Damit das reicht, kaufen Haushalte mit einem kleinen Budget häufig entweder weniger oder qualitativ schlechtere Lebensmittel ein. Für Deutschland ist der Zusammenhang zwischen Lebensmittelpreisen und ihrer Energiedichte, beziehungsweise ihrem Nährstoffgehalt, wenig untersucht. Studien aus anderen wohlhabenden Ländern zeigen aber, dass Lebensmittel mit hohem Stärke- und Zuckeranteil im Vergleich zu gesunden Lebensmitteln wie Obst und Gemüse, Fisch oder magerem Fleisch relativ preisgünstig sind.

Hunger und Fehlernährung sind keine zufälligen Produkte unserer Ernährungssysteme. Sie sind das Resultat politischen Versagens, von Kriegen und fehlendem politischen Willen, Ungleichheit und Armut sowie massiver Machtungleichgewichte bei der Produktion und der Verteilung von Nahrungsmitteln. Hunger und Fehlernährung sind ein moralisches Desaster. Wer wieviel und was zu essen bekommt, das ist politisch – und damit ein Auftrag für politisches und gesellschaftliches Handeln.


Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung.

Dr. Christine Chemnitz ist Referentin für internationale Agrarpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung.

Inka Dewitz ist Referentin für internationale Ernährungspolitik der Heinrich-Böll-Stiftung.


Der Text basiert auf einer Veröffentlichung der Heinrich-Böll Stiftung und dem Thinktank TMG. Mehr zum Thema im Dossier: Armut.Macht.Hunger auf Boell.de.

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